- Mysterien: Kultische Feste zu Ehren von Demeter und Dionysos
- Mysterien: Kultische Feste zu Ehren von Demeter und DionysosDer athenische Ausdruck »mystéria« bezeichnete ursprünglich ein Fest der Demeter und Kore in Eleusis. Er wurde jedoch im Lauf der Zeit erweitert und diente als Bezeichnung für eine ganze Gruppe von Kulten - man spricht auch von Isis- und Mithrasmysterien; diese stimmen zwar in einigen Grundlagen überein, etwa in einem gewissen Interesse am Leben nach dem Tod, in der Geheimhaltungspflicht und der Existenz von Einweihungsriten. Das Interesse am Leben nach dem Tod fehlte aber bei Mithras und bei den Mysterien von Samothrake. Wir wissen nicht genau, woher das Wort »mystérion« ursprünglich stammt, doch die moderne Bedeutung »etwas Unklares« oder »Ungelöstes« ist mit Sicherheit Ergebnis späterer Entwicklung. Die bedeutendsten Mysterien der klassischen Zeit waren die Eleusinischen Mysterien und die Mysterien des Dionysos; beide erregen heute starke Aufmerksamkeit, weil eine Reihe spektakulärer Neufunde auftauchte.Die Eleusinischen Kulthandlungen waren ein Geheimnis; es zu verraten galt als todeswürdiges Verbrechen. Unsere Kenntnisse stammen deshalb hauptsächlich von christlichen Schriftstellern; und es ist nicht sicher, ob alles, was wir darüber wissen, auch auf die klassische Zeit bezogen werden kann. Jede Beschreibung hat daher etwas Ungewisses. Die eleusinischen Mysterien wurden jährlich einmal im Heiligtum der Demeter und ihrer Tochter Kore gefeiert und dauerten etwas länger als eine Woche.Nach vier Tagen der Vorbereitungen machte sich die Prozession der Mysten - Männer und Frauen, Sklaven und Freie, Athener und Fremde - von der Stadt Athen aus auf den Weg nach Eleusis. Man benutzte die (heute noch vorhandene) Heilige Straße und gelangte nach circa 35 Kilometern zum Heiligtum der beiden Göttinnen. Den ersten Tag in Eleusis ruhte man aus und versammelte sich erst am Abend zum großen Festakt. Anscheinend betraten die Mysten dabei erst nach Umhergehen im nächtlichen Dunkel das Hauptgebäude, während der Hierophant, der »Hohepriester«, unter Gongschlägen Kore herbeirief. Der Gegenpapst Hippolyt schreibt, der Hierophant habe mit erhobener Stimme gerufen: »Die Herrin hat ein heiliges Kind geboren, Brimo den Brimos« - dies gewendet zu denen, die das erste Mal dabei waren. Den bereits Eingeweihten habe man »eine geschnittene Kornähre« gezeigt. Auch Platon und Plutarch sprechen von Panik und Zittern, von wunderbarem Licht und reinem Glanz - aber es ist nicht möglich gewesen, diese Beschreibungen plausibel als Elemente eines Kultspieles einzuordnen. Man kann sich fragen, ob sie nicht eher eleusinische Propaganda als die Realität der Kulthandlungen spiegeln. Nach der Initiation opferten die Mysten Schweine: die Mysterienfeier dürfte ihren Höhepunkt in einem riesigen Grillfest unter freiem Himmel gefunden haben.Vieles, was wir von den Eleusinischen Mysterien wissen, ist schon lange bekannt; ganz anders verhält es sich bei den Mysterien des Dionysos, der auch Bacchos genannt wird. Um 500 v. Chr. entstand in Süditalien eine Art neue religiöse Bewegung, die ihre Vorstellungen in Gedichtform verbreitete; die Griechen schrieben diese Gedichte dem mythischen Sänger Orpheus zu; später nannte man diese Bewegung daher Orphismus. Ihre Dichtung kombinierte sonst in Griechenland streng geschiedene Elemente, nämlich Vorstellungen von der Entstehung der Menschen, der Götter und Hoffnungen auf ein Jenseits. Bereits die antiken Griechen haben die Nähe zwischen diesen Ideen und dem Kult des Dionysos festgestellt: Herodot identifizierte orphische und bacchische Riten. Er sagt uns nicht, worin diese Riten bestanden, doch hat die archäologische Forschung der letzten drei Jahrzehnte seine Aussagen zur Ähnlichkeit eindrucksvoll bestätigt: In Olbia auf der Krim fand man beispielsweise Knochenplättchen auf denen beide Namen, Dion(ysos) und Orphik(oi), geschrieben stehen, außerdem Wortzusammenstellungen wie: »Leben-Tod-Leben«, »Lüge-Wahrheit«, »Körper-Seele«. Diese Wörter wirken immer noch etwas rätselhaft, belegen aber doch zumindest, dass einige Bewohner von Olbia Dionysos mit Orpheus verbunden haben und sich mit dem Jenseits beschäftigten.Wir wissen, dass im 5. Jahrhundert die Eleusinischen Mysterien stark von orphischer Dichtung beeinflusst wurden, aber es gibt auch Fundstücke, die auf eine umgekehrte Einflussrichtung hinweisen, als habe Eleusis auf den Orphismus eingewirkt. Nicht unwahrscheinlich ist, dass mit der Hinwendung zu Fragen des Jenseits in den eleusinischen Mysterien beide Mysterien sich darin annäherten. Bei den Fragen nach der Organisation und der historischen Entwicklung der bacchischen Mysterien und ihrer genauen Beziehung zum Orphismus bestehen trotz aller Neuentdeckungen immer noch Unklarheiten.Prof. Dr. Jan N. BremmerBremmer, Jan: Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland. Autorisierte Übersetzung von Kai Brodersen. Darmstadt 1996.Bruit Zaidman, Louise und Schmitt Pantel, Pauline: Die Religion der Griechen. Kult und Mythos. Aus dem Französischen übertragen von Andreas Wittenburg. München 1994.Burkert, Walter: Antike Mysterien. Funktionen und Gehalt. München 31994.Simon, Erika: Die Götter der Griechen. München 31985.
Universal-Lexikon. 2012.